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VERFAHRENSRECHT | Neue Verfahrensförderungspflicht seit 1.9.2022!

Im Abgabenverfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz (Inquisitionsmaxime), wonach die materielle Wahrheit von Amts wegen zu erforschen ist. Dementsprechend haben Behörden Beweisanträge der Parteien zu prüfen und zu würdigen. Dies galt bisher auch uneingeschränkt im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesfinanzgericht (BFG). Neue Sachverhaltsdarstellungen und Beweisanbote „in letzter Sekunde“ konnten daher Verfahrensdauern mitunter in die Länge ziehen. Erst im Verfahren vor den Höchstgerichten konnten schon bisher keine neuen Tatsachen und Beweise mehr vorgebracht werden (Neuerungsverbot). Aufgrund der mit dem Abgabenänderungsgesetz 2022 erfolgten Verfahrensrechtsnovelle (insb. § 270 BAO idF AbgÄG 2022) ist für Beschwerden ab 1.9.2022 eine neue „Verfahrensförderungspflicht“ zu beachten, welche es dem Bundesfinanzgericht nunmehr erlaubt, verspätete Beweisanträge abzulehnen.

Im Rahmen des Abgabenänderungsgesetzes 2022 (AbgÄG 2022BGBl I Nr. 108/2022, kundgemacht am 19.7.2022) erfolgten ua auch wesentliche Änderungen der Bundesabgabenordnung (BAO), worüber wir im Rahmen unseres Newsletters bereits mehrmals berichtet hatten. Unter Anderem wurde auch eine neue „Verfahrensförderungspflicht“ im BFG-Verfahren eingeführt, die wir Ihnen im nachfolgenden Beitrag etwas näher bringen möchten:

 

Gesetzliche Grundlagen


Das Bundesfinanzgericht (BFG) fällt seine Entscheidungen grundsätzlich „meritorisch“, also in der Sache selbst. Das Gericht ist folglich - ebenso wie die Behörden - der Erforschung der materiellen Wahrheit verpflichtet. Dementsprechend gilt im Verfahren vor dem BFG auch kein „Neuerungsverbot“. Dieser Umstand ließ es bislang zu, dass Tatsachenbehauptungen und Beweisanbote, die im Rechtsmittelverfahren erst sehr spät vorgebracht wurden, ebenso noch zu beachten waren und mitunter relativ lange Verfahrensdauern bewirken konnten.

Von der Einführung eines generellen Neuerungsverbots auf Ebene der Verwaltungsgerichte hat der Gesetzgeber zwar Abstand genommen, jedoch wurden andere verfahrensrechtliche Mittel in den Beschwerdeprozess implementiert, von welchen eine verfahrensbeschleunigende Wirkung erwartet wird:

§ 270 BAO idF AbgÄG 2022 normiert in Absatz 1 nunmehr, dass „auf neue Tatsachen, Beweise und Anträge, die der Abgabenbehörde im Laufe des Beschwerdeverfahrens zur Kenntnis gelangen, […] von der Abgabenbehörde Bedacht zu nehmen [ist], auch wenn dadurch das Beschwerdebegehren geändert oder ergänzt wird. Dies gilt nach Maßgabe des Abs. 2 sinngemäß für dem Verwaltungsgericht durch eine Partei oder sonst zur Kenntnis gelangte Umstände; im Falle einer durchgeführten mündlichen Verhandlung jedoch nur bis zu deren Schließung […].“ Im Absatz 2 heißt es dann weiter: „Jede Partei hat ihr Vorbringen so rechtzeitig und vollständig zu erstatten, dass das Verfahren möglichst rasch durchgeführt werden kann (Verfahrensförderungspflicht).“

§ 183 BAO zur Beweisaufnahme wurde ebenfalls novelliert, wonach gemäß Absatz 3 „von der Aufnahme beantragter Beweise abzusehen ist, wenn […] im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht […] das Beweisanbot der Parteien der Verfahrensförderungspflicht (§ 270 Abs. 2) widerspricht. Von der Aufnahme eines im Vorlageantrag gestellten Beweisantrages darf das Verwaltungsgericht [jedoch] nicht mit der Begründung absehen, dass der Beweisantrag der Verfahrensförderungspflicht […] widerspricht.“

 

Konsequenzen eines Verstoßes gegen § 270 BAO

 

Rechtsmittelverfahren ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung

Die Konsequenzen, die sich aus einem Verstoß gegen § 270 BAO ergeben, sind je nachdem, ob eine mündliche Verhandlung beantragt wurde oder nicht, unterschiedlich geregelt. Sofern keine mündliche Verhandlung durchgeführt wird, gibt es im Verfahren vor dem BFG nach wie vor kein Neuerungsverbot. Jedoch greift die neue Verfahrensförderungspflicht gem. § 270 Abs 2 BAO. Deren Auswirkungen sind von der Konzeption her durchaus schwerwiegend:

Schon bislang gestattete § 183 BAO aF von einer Beweisaufnahme wegen offenbarer Absicht der Verfahrensverschleppung abzusehen. Dies erfordert jedoch die schwierige Feststellung, der betreffenden Partei die Verschleppungsabsicht subjektiv nachzuweisen. Als Verschleppung wahrgenommene Beweisanbote stehen zudem im Spannungsverhältnis zur amtswegigen Ermittlungspflicht. Der nunmehr neu geschaffene Ablehnungstatbestand betreffend Missachtung der Verfahrensförderungspflicht (§ 183 BAO idF AbgÄG 2022) stellt hingegen auf eine rein objektive Sicht ab: Liegen daher aus objektiver Sicht keine sachlichen Gründe dafür vor, dass im Verfahren eingebrachte Beweisanträge nicht schon bereits in einem früheren Verfahrensstadium eingebracht hätten werden können, kann das Verwaltungsgericht die Beweisaufnahme ablehnen. Anstelle der subjektiven Verschleppungsabsicht reicht es folglich, dass für das Gericht eine Rechtfertigung für die verspätete Einbringung objektiv nicht erkennbar ist. Insofern kommt es durch die Neuregelung zu einer Art Beweislastumkehr, und die Ablehnung von Beweisen im späteren Verfahrensverlauf wird dem BFG nun deutlich leichter fallen.

Die Verfahrensförderungspflicht des § 270 Abs 2 BAO gebietet zwar, alle Vorbringen – also neben Beweisanträgen insbesondere auch andere verfahrensrechtliche Anträge – so bald wie möglich zu stellen, eine direkte Sanktion ist damit aber nicht verbunden. Die tatsächliche Wirkung entfaltet die Bestimmung erst in der Zusammenschau mit dem neuen Ablehnungstatbestand des § 183 BAO. Dieser bezieht sich allerdings nur auf die Ablehnung von Beweisanträgen. Gegen andere (unter Umständen verfahrensverschleppend eingesetzte) Anträge – wie etwa Befangenheitsanträge gem. § 268 BAO – bietet die Neuregelung in der derzeitigen Form keine Handhabe. 1)

 

Rechtsmittelverfahren mit Durchführung einer mündlichen Verhandlung

Etwas anders stellt sich die Rechtslage für den Fall dar, dass die Parteien tatsächlich vor dem BFG verhandeln. Hierfür sieht § 270 Abs 1 BAO ausdrücklich vor, dass auf Vorbringen der Partei nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung kein Bedacht mehr zu nehmen ist (spezifisches Neuerungsverbot). Fraglich ist, ob bis zur Schließung der mündlichen Verhandlung Beweisanträge uneingeschränkt zulässig sind oder ob es auch hier die Verfahrensförderungspflicht zu beachten gilt? Rein aus dem Gesetzestext lässt sich diesbezüglich jedenfalls nichts ableiten. Beweisanträge während der mündlichen Verhandlung sollten unseres Erachtens aber jedenfalls zulässig sein, da andernfalls Sinn und Zweck einer derartigen Verhandlung konterkariert würde. Dementsprechend ergäbe auch eine Beschränkung für den Zeitraum zwischen Vorlageantrag und tatsächlicher Durchführung der mündlichen Verhandlung wenig Sinn. Dies scheint auch den Intentionen des Gesetzgebers zu entsprechen, da nach den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage des AbgÄG 2022 „die ausdrückliche Normierung einer für das verwaltungsgerichtliche Verfahren geltenden Verfahrensförderungspflicht […] zusätzlich und insbesondere in allen Verfahren, in denen keine mündliche Verhandlung durchgeführt wird, verfahrensbeschleunigend wirken [soll].“ 2)


Widerspruch zum Grundsatz der materiellen Wahrheit?


Wie bereits erwähnt, obliegt es der Behörde respektive auch dem Gericht, die materielle Wahrheit zu erforschen. Die Ablehnung weiterer Beweisanträge sowie die Etablierung eines spezifischen Neuerungsverbots nach Schluss einer allfällig stattfindenden mündlichen Verhandlung vermögen das Rechtsmittelverfahren womöglich zu beschleunigen, stehen andererseits aber im Spannungsverhältnis zum Untersuchungsgrundsatz. Insbesondere eine zu stringente Anwendung des neuen Ablehnungstatbestands vermag im Einzelfall dazu führen, dass der Besteuerung ein Sachverhalt zu Grunde gelegt wird, der sich so nie zugetragen hat. Dieses Spannungsverhältnis kann letztlich nur im Wege der Abwägung aufgelöst werden. Ein derartiges Abwägen ist dem Verfahrensrecht nicht fremd. So wird beispielsweise auch durch die Anwendung von Verjährungsregeln der Rechtsbeständigkeit der Vorrang vor Rechtsrichtigkeit gegeben. Erst die künftige praktische Anwendung der neuen Regelungen wird zeigen, inwieweit hier ein verhältnismäßiger Eingriff in den Grundsatz der materiellen Wahrheitsfindung vorliegt. 3)

 

Mündliche Verhandlung oder nicht?


​​​​​​​Die neue Verfahrensförderungspflicht für rein nach Aktenlage zu entscheidende Rechtsmittelverfahren lässt die Frage aufkommen, ob künftig daher nicht besser generell eine mündliche Verhandlung beantragt werden sollte? Auch wenn nach Schließung der mündlichen Verhandlung nunmehr das oa spezifische Neuerungsverbot zu beachten ist, bietet sie bis zu diesem Zeitpunkt doch die Möglichkeit, dem BFG auch nach Einbringung des Vorlageantrages noch neue Tatsachen und Beweise zu präsentieren. Andererseits gilt es zu bedenken, dass das spezifische Neuerungsverbot nach geschlossener mündlicher Verhandlung nicht nur Beweisanbote betrifft, sondern jedwedes Vorbringen einer Partei verunmöglicht. Insbesondere können nach diesem Zeitpunkt auch andere verfahrensrechtliche Anträge nicht mehr gestellt werden. Auch gilt es zu bedenken, dass die Vorbereitung und Durchführung einer mündlichen Verhandlung für Beschwerdeführer regelmäßig mit höheren Beratungsaufwendungen verbunden sein wird.

Die Verfahrensförderungspflicht bei Verfahren ohne mündliche Verhandlung ermöglicht der Behörde hingegen die Ablehnung verspätet angebotener Beweise bzw. Tatsachen, nicht jedoch anderer verfahrensrechtlicher Anträge.

Welche der beiden Varianten für Beschwerdeführer künftig vorteilhafter sein wird, lässt sich noch nicht sagen bzw wird maßgeblich von der künftigen praktischen Handhabung durch die Gerichte abhängen.

 

FAZIT
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Die Möglichkeit, neue Tatsachen und Beweise im Rechtsmittelverfahren vorzubringen, wurde mit dem AbgÄG 2022 durch ein spezifisches Neuerungsverbot (nach Ende einer durchgeführten mündlichen Verhandlung) sowie eine allgemeine Verfahrensförderungspflicht (in allen Verfahren, in denen keine mündliche Verhandlung stattfindet) teilweise beschnitten. Beide Maßnahmen sollen nach dem Willen des Gesetzgebers helfen, überlange Verfahrensdauern möglichst zu verhindern.

Um in einem Rechtsmittelverfahren zu obsiegen, wird man sich künftig viel genauer überlegen müssen, welche Anträge wann gestellt und welche Tatsachenvorbringen dem Beschwerdeschriftsatz (bzw. spätestens dem Vorlageantrag) zugrunde gelegt werden sollten. Wie streng insbesondere die neue Verfahrensförderungspflicht in der künftigen Praxis gehandhabt wird, muss sich freilich erst zeigen. Über diesbezügliche Erfahrungen werden wir Sie gerne auf dem Laufenden halten.

Für weitere Fragen sowie Unterstützung bei der Rechtsdurchsetzung in Beschwerdeverfahren stehen Ihnen die Verfasser mit der Service Line "Tax Controversy"​​​​​​​ gerne zur Verfügung!

 


[1] Gleiss/Hubmann, Neuerungsverbot nach mündlicher Verhandlung und Verfahrensförderungspflicht im BFG-Verfahren, AVR 5/2022, 202 (207).
[2] Erl RV 1534 BlgNR XXVII GP, 36.
​​​​​​​[3] Gleiss/Hubmann, AVR 5/2022, 206.